Reflexionsfragen für pädagogische Fachkräfte, die das Vertiefen eigener Themen ermöglichen
Eine andere Art der Reflexion kann darin bestehen, darüber nachzudenken, was das kindliche Handeln/Verhalten in einem selbst auslöst bzw. mit einem selbst macht. Gerade Wahrnehmende Beobachtungen von Situationen, in denen Sie am Geschehen beteiligt waren, können hier aufschlussreich sein. Grundvoraussetzung sind Beobachtungen, in dem auch eigene Wahrnehmungen und Empfindungen bewusst und als solche kenntlich gemacht festgehalten werden. Die Reflexion der Situationen dient dazu, routinierte Handlungsweisen bewusst zu machen und es zu ermöglichen, alternative Handlungsmuster herauszuarbeiten, um das pädagogische Handlungsrepertoire zu erweitern.
Bei dieser zweiten Variante der Reflexion geht es darum, sich tiefgehender mit sich selbst und seinen Themen in den Blick zu nehmen und zum Beispiel über Fallbesprechungen an eigene biografische Themen heranzukommen. In einer Partizipatorischen Didaktik werden alle als Lernende gesehen. Nicht nur die Kinder lernen dazu, sondern auch die pädagogischen Fachkräfte können durch die Arbeit mit den Kindern sehr viel über sich lernen, wenn sie sich auf den Prozess einlassen. Selbstreflexion erhält in einer Partizipatorischen Didaktik eine große Bedeutung und ermöglicht gleichzeitig bedeutsame Biografiearbeit. Für diese Art der Reflexion ist eine regelmäßige (Einzel-)Supervision wichtig, in der pädagogische Fachkräfte professionell begleitet werden.
In einer Kultur des Lernens sehen wir Situationen, die nicht optimal laufen als Chance zur Weiterentwicklung. Versuchen Sie bewusst hinzuschauen, was in der Situation nicht gut gelaufen ist, was hätte anders sein können, um für alle zu einer befriedigenderen Situation zu führen. Hierbei kann sich das Team gegenseitig dabei helfen, Themen zu identifizieren und daran zu arbeiten Dafür sind Vertrauen und gegenseitige Wertschätzung im Team unabdingbar. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alles im Team thematisiert werden muss; einige persönliche Themen können selbstverständlich in Einzel-Supervisionen besprochen werden. Eine solche professionelle Herangehensweise wird in therapeutischen Bereichen schon seit Jahren praktiziert und sollte im Kita-Bereich auch zur Normalität werden. Für diese Art der Reflexion bietet es sich an, wenn jede pädagogische Fachkraft ihr eigenes privates Notizbuch hat, in dem Dinge, die sie beschäftigen und an denen sie arbeiten möchte, notiert werden können, um im Trubel des Alltags nicht unterzugehen.
Eine forschende Haltung drückt sich darin aus, dass man Situationen nicht einfach hinnimmt. Man möchte sie verstehen, ihnen nachgehen, Lösungen finden. Es gibt tausende von Fragen, die Sie sich stellen können. Bitte verstehen Sie die folgenden Fragen nur als Anregungen. Ihre Fragen sollten Sie aus den Beobachtungen Ihres eigenen Alltags ableiten:
- Warum laufen bestimmte Tage besonders gut, während andere als sehr anstrengend empfunden werden?
- Warum regt mich ein besonderes Verhalten eines Kindes immer auf? Welches Verhalten ist das und wann tritt es zutage? Bringt es mich immer an meine Grenzen oder nur unter bestimmten Umständen – wenn ja, unter welchen?
- Auf welche Kinder kann ich wenig empathisch bzw. feinfühlig reagieren? Wütende? Ängstliche oder Schüchterne?
- Für welche Verhaltensweisen bringe ich wenig Verständnis auf? Beobachte ich solche Verhaltensweisen auch an mir oder bin damit unzufrieden? Erlebe ich mich zum Beispiel selbst schnell als unsicher, könnte es sein, dass ich auf ängstliche Kinder rasch genervt reagiere etc. – das Kind wirkt hier wie ein Spiegel.
- Was genau bringt mich dazu, aus dem Gleichgewicht zu geraten und mit den Kindern zu schimpfen, obwohl ich mir bewusst bin, dass dies beschämend für die Kinder ist und sich auf ihr Selbstbild negativ auswirken kann?
- Wann beginne ich, Sanktionen zu setzen oder Wenn-dann-Konsequenzen zu formulieren? Was macht das mit mir? Was macht das mit den Kindern?
- Warum werde ich sauer auf die Eltern, wenn ein Kind immer zu spät zum Morgenkreis kommt? Wie könnte ich das Problem lösen?
- Benutze ich stereotype oder stigmatisierende Formulierungen?
Auch wenn die Forschung sich noch in den Anfängen befindet, Zusammenhänge zwischen professionellem Handeln und biografischen Erfahrungen nachzuweisen, so gibt es bereits deutliche Tendenzen, diese zu erkennen (vgl. Rothe 2019, S 74) Joachim Bauer, Neurowissenschaftler und Psychotherapeut, schreibt in seinem Buch „Schmerzgrenze“:
„Verschiebungen können auch die Folge von kindlichen Erfahrungen sein Experimente an Menschenaffen zeigen, dass Neugeborene und ‚Kleinkinder‘, die grob oder mit Gewalt behandelt wurden, sich später selbst grob und gewalttätig gegenüber ihrem eigenen Nachwuchs verhalten. Umgekehrt zeigen in der Frühphase des Lebens fürsorglich behandelte Junge später als Eltern ihrerseits ein liebevolles Verhalten. (…) In die gleiche Richtung gehende Beobachtungen gibt es beim Menschen: Säuglinge, die unmittelbar nach der Geburt in der Klinik behandelt werden mussten und daher notgedrungen mehr schmerzhafte Erfahrungen (z B wegen Blutabnahme) machen mussten als andere Kinder, zeigen als Heranwachsende eine erhöhte Sensibilität im Bereich eben jener Hirnregionen, die für die Wahrnehmung der Schmerzgrenze – und damit auch für die Aggressionsauslösung – zuständig sind“ (vgl. Bauer 2013, S 78 f ).
Auch können eigene biografische Erfahrungen zu pädagogischen Handlungen verleiten, die die Kinder in ihren Erfahrungsmöglichkeiten eingrenzen „Der Pädagoge, der selbst einmal Kind war, muss dieses Kind in sich mit den Erfahrungen, die es geprägt haben, kennen, um dann auf das Kind vor sich reagieren zu können und nicht unreflektiert seine eigenen Ängste, Beziehungserfahrungen, Vorlieben etc. auf das Kind zu projizieren“ (Bernfeld 1971). Erst durch das Aufdecken unreflektierter Ängste können Lösungen gefunden werden, anders mit Situationen umzugehen Voraussetzung ist aber: Man muss Ängste oder biografisch motivierte Begrenzungen kennen, damit man sie überwinden oder es lernen kann, damit umzugehen.
Durch den enormen Einfluss eigener biografischer Erfahrungen kann auch zum Beispiel erklärt werden, warum alleine das Wissen darüber, dass Kinder unter drei Jahren vornehmlich über explorierendes Spiel lernen, es einer pädagogischen Fachkraft nicht unbedingt ermöglicht, intensive Explorationen von Kindern im pädagogischen Alltag zuzulassen. Es hängt auch davon ab, inwiefern sie selbst einen Zugang zu dieser Art des Lernens als Kind erleben oder als Erwachsene nachholen konnte, um diese Aktivitäten nachvollziehen und jetzt in ihrem beruflichen Alltag zulassen zu können.
Erlebte Erziehungsmethoden, die nicht mehr zum heutigen Bild vom Kind passen, können Spaltungen zwischen bewusstem Handeln oder Denken und Handeln aus frühkindlichen Prägungen heraus erklären und sollten nicht unter den Tisch gekehrt, sondern als Anlass für professionelle Reflexionen genutzt werden.
Neben den persönlichen, biografischen Erfahrungen, die zu belastenden Erfahrungen führen können, gibt es in der Kita mittlerweile zahlreiche weitere Belastungsfaktoren (vgl. Boll & Remsperger-Kehm 2020), die zu einem Handeln gegen den eigenen Anspruch führen und von den pädagogischen Fachkräften selbst als belastend empfunden werden (Schreyer et al. 2014, S 156). Diese können insbesondere auf die Folgen des Personalmangels zurückgeführt werden, die die Fachkraft-Kind-Relation weiter verschlechtern und pädagogische Fachkräfte an ihre Grenzen bringen. Viernickel und Voss haben bereits 2012 nachgewiesen, dass größere Gruppenstärken „mit geringerer Sensitivität und Responsivität sowie vermehrt einschränkendem und direktivem Verhalten“ der Fachkräfte einhergeht (Viernickel & Voss 2012, S 41).
Auch der Umgang mit besonderen oder herausfordernden Kindern, die bis zu 15 Prozent in der Kita ausmachen, führt zu Belastungen bei den pädagogischen Fachkräften (Nürnberg 2018, S 18; Viernickel & Voss 2012, S 166). Remsperger und Boll verglichen verschiedene Studien, die sich mit den Belastungen pädagogischer Fachkräfte auseinandersetzen, und kommen zu dem Schluss, dass durch unzureichende Arbeitsbedingungen und eine große Erschöpfung der Fachkräfte die Signale und Bedürfnisse der Kinder zuweilen gar nicht erst wahrgenommen werden können und Themen von Kindern unbeachtet bleiben (Remsperger 2011; Wildgruber et al. 2016; Remsperger-Kehm 2017; Remsperger-Kehm & Boll 2020).
All diese Überforderungen, die eigentlich auf der Strukturebene zu lösen wären, wirken sich stark auf der Beziehungsebene aus und führen zu nicht feinfühligem Verhalten oder sogar zu pädagogischen Handlungsweisen, die zu Grenzüberschreitungen führen können, zum Beispiel durch Nichtbeachtung, Ausgrenzung, Maßregelung, Isolation, Stigmatisierung (bezugnehmend auf Gauly 2018). Falls in der Kita solche Verhaltensweisen auftreten, ist es wichtig zu erkennen, dass hier auf Strukturebene dringend Maßnahmen angesetzt werden müssen, die dazu führen, eine bessere Arbeitssituation für die pädagogischen Fachkräfte zu schaffen und im Team Möglichkeiten zu finden, in denen über diese Situationen in einem professionellen Rahmen gesprochen und nach Lösungen gesucht werden kann. Auch Supervision oder therapeutische Maßnahmen sind in solchen Fällen dringend zu empfehlen, um hier professionell zu reagieren Keinesfalls darf grenzüberschreitendes Handeln in der Kindertagestätte tabuisiert werden; Professionalität zeigt sich darin, solche Situationen zu erkennen und nach Lösungen zu suchen.
Es wurde deutlich, dass es sehr viele verschiedene Möglichkeiten zur Reflexion des pädagogischen Alltags gibt. Wichtig ist, dass Sie auf der Strukturebene dafür sorgen, dass Sie regelmäßig Zeiten zum Reflektieren einplanen. Welche Themen dann im Fokus der Teamsitzungen stehen, hängt von der jeweiligen Ausgangssituation in Ihrer Einrichtung ab. Während Reflexionen mit dem Schwerpunkt auf kindlichen Bildungsprozessen Teil der Team-Gespräche sein könnten, sind Reflexionen bezüglich eigener biografischer Themen vorrangig in Supervisionen zu verorten.